Untheologische Gedanken eines Verwandten

über die Dissertation „Becker: Wilhelm Busch“ von 2008

Sommer 2011

 

Zusammenfassung: Besteht nicht die Gefahr, dass ein schönes Bild von einer Familie und ihrem Spross und einer theologischen Tradition gezeichnet wird, die damals viel bewegte, uns heute aber wenig sagen kann, weil es gar nicht so sehr die Familie und die Theologie waren, denen Wilhelm Buschs Wirken zu verdanken ist, sondern dass die etwas verborgeneren Wege Gottes eher durch die Zerstörungen des 20. Jahrhunderts fruchtbar wurden, die auch die Familie Buschs nicht verschonten? Wo liegen die gar nicht schönen Schäden und Schmerzen hier, die vielleicht der wirkliche Grund sind für Buschs großes Wirken, und die vielleicht uns heute viel mehr zu sagen haben als die reine Familiengeschichte und Theologie? Als Großneffe frage ich mich anlässlich dieser Doktorarbeit, wie ich zu Wilhelm Busch stehe. Ich bin Geschichtelehrer und eine ehemalige Schülerin von mir, die ein Theologiestudium beginnt, schrieb mir per E-Mail: „Der Evangelist Wilhelm Busch ist aber nicht der Autor von "Max & Moritz" oder? Der Name sagt mir gar nichts...“ Nun muss das nichts heißen, aber ich frage mich schon, ob der Prediger Wilhelm Busch, der in der Nachkriegszeit sehr bekannt war, heute noch jemandem etwas „zu sagen hat“. Weiter frage ich mich, ob er auch genügend in der Geschichte seiner Zeit gesehen wird. Er ist im Kaiserreich geboren in einem Elternhaus, das diesem Reich und seinem Kaiser sehr nahe stand (wie viele evangelische Pfarrhäuser). Auch war es ein Elternhaus in einer großbürgerlichen Umgebung, Kunst und Bildung spielten eine Rolle. In einem der schrecklichsten Kriege erlebte Busch die Niederlage dieses Reiches. Verfolgt, aber auch in Ruhe gelassen im Nationalsozialismus, erlebt Busch – nach dem Elend der Weimarer Republik – die nächste Niederlage Deutschlands. Ich frage mich, ob neben aller Theologie dieser geschichtliche Hintergrund nicht sehr wichtig ist dafür, was man heute von Wilhelm Busch lernen kann und wie er uns heute etwas zu sagen hätte. Aber auch seine Rolle in der Familie hinterfrage ich: Steht der Onkel wirklich monolithisch da als der berühmte Prediger, Frucht der pietistischen Familientradition? Hat er nicht viel mehr Menschen außerhalb der Familie zu verdanken oder seiner Schwiegerfamilie oder eben auch gerade dieser schrecklichen deutschen Geschichte? War es nicht eher so, dass er trotz seiner Familien- und Zeitumstände so viel wirken konnte anstatt wegen ihnen?

 

I. Ist eine Doktorarbeit über Wilhelm Busch das richtige Mittel?

II. Warum ist Wilhelm Busch heute so wenig „anschlussfähig“?

(Positiv: Wie könnte sein schon großes Erbe noch mehr genutzt werden?)

III. Welche Schwächen hatte Wilhelm Busch und was bedeuten sie?

IV. Wird Wilhelm Busch vielleicht besser „anschlussfähig“,

wenn man ihn als „geschlagenen Gottesmann“ sieht statt als großen Prediger?

 

Letzten Sommer, 2010, übergaben mir meine Eltern die im Neukirchener Verlag als Band 14 der „Beiträge zu Evangelisation und Gemeindeentwicklung“ frisch erschienene Doktorarbeit über Wilhelm Busch. (Zu Weihnachten bekam ich sie dann als Geschenk mit einer Widmung meines Vaters, die wiederum eine Widmung ist, die Wilhem Busch selbst einst für ein Buchgeschenk an Konrad Eißler verwendet hat: „Schaut den Fels an, davon ihr gehauen seid“ Jesaja 51.) Wolfgang Becker, Pfarrer der Evangelischen Kirche im Rheinland, hat sie 2008 bei den Professoren Ohlemacher und Herbst in Greifswald eingereicht. Beide waren damals (laut Wikipedia) Direktoren des Instituts zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeaufbau an der Universität Greifswald. Zusammen mit dem mir noch aus Tübinger SMD-Zeiten bekannten Johannes Zimmermann, geschäftsführendem Direktor an eben dieser Universität, geben die beiden genannten Doktorväter die oben genannte Neukichener Schriften-Reihe heraus. Noch ein Wort zu jenem Dr. habil. Johannes Zimmermann. Er ist ein Schwabe von echtem Schrot und Korn, blitzgescheit, verwandt mit Otto Schaude; eine Schwester von ihm, Schulleiterin der neuen FES in Böblingen, gehört meines Wissens zur selben Kirchengemeinde Pliezhausen wie meine Eltern. Johannes Zimmermann forscht in so schwerem Terrain wie den Qumran-Rollen, was ihn wohl bekannt machte. Er hat mich – wie ich nie vergessen werde – z. B. bei einem Zusammentreffen in der Tübinger Mensa Wilhelmstraße höchst liebenswürdig und zuvorkommend behandelt. Der oben genannte Professor Michael Herbst ist außerdem Schüler des in frommen Kreisen bekannten Erlanger Theologen Seitz und Mitkurator der Evangelisation Pro Christ.

Meine Mutter sammelt ja richtig gehend jede Veröffentlichung aus ihrer Verwandtschaft und scheut keine Kosten, immer zahlreiche Exemplare von jedem Buch zu kaufen und zu verschenken, wo Scheffbuch, Busch, Stöffler, Schäfer oder Eißler draufsteht. Von Winrich und Rolf Scheffbuch lieh mir meine Mutter sehr lesenswerte Bücher über Liederdichterinnen: Woher kommt „What a friend we have in Jesus ...“ und „So nimm denn meine Hände“ ? Welche Schwaben waren die ersten Missionare Ostafrikas (Kenia, Tansania, Uganda – englisches/protestantisches Einflussgebiet)? Wenn man Onkel Rolf liest, erlebt man noch mal die Entdeckung des Kilimandscharo mit. Andrea Eißler (Frau von Tobias) schreibt ein Buch mit täglichen Andachten. Der Autor Wolfgang Becker verweist übrigens darauf, dass ein Jahr nach seiner Arbeit eine weitere Dissertation über Wilhelm Busch erschienen sei: Martin Staebler, Pastor Wilhelm Busch. Biografische Notizen als Gestaltungsmittel der Verkündigung, Diss. Frankfurt a. M., Herbst 2009. Von diesem Werk habe ich jedoch nichts in Pliezhausen bei meinen Eltern mit bekommen.

 

I. Ist eine Doktorarbeit über Wilhelm Busch das richtige Mittel?

Hier zeigt sich schon die erste Frage, die ich zu diesem Werk von Wolfgang Becker habe: Staebler nimmt sich eine „Detailfrage“ vor (so Becker S. VI). Aber hat sich Becker nicht zu viel vorgenommen? Hat dieser bedauernswerte Pastor aus dem Rheinland wie so viele überanspruchsvolle deutsche Doktoranden sich nicht jahrelang für einen Doktortitel gequält, seiner Gemeinde und Kirche, wie er ja ebenda in der Einleitung auch schreibt, vor allem aber auch seiner Familie und am meisten sich selbst Unmenschliches abverlangt? Der Umfang ist derart immens, dass nicht alles gedruckt werden konnte, sondern hunderte von Seiten als CD beigelegt sind! Ich als Außenstehender kann nur ahnen, dass es wohl daran liegt, dass Wilhelm Busch so wenig erforscht ist bisher. Becker reiste durch die Lande, war mehrfach bei meinen Eltern in Pliezhausen. Auch hier in Pforzheim, wo ich wohne, hat er beispielsweise bei ehemaligen EC-Leuten Besuche gemacht und Privat-Archive untersucht, wie den Fußnoten zu entnehmen ist. Seine Dissertation ist keine These, die er zu untersuchen und dann wissenschaftlich zu erörtern hat (z. B. „Wieviel Rhetorik enthält die Predigtweise Buschs?“), so wie ich es für sozial- und geisteswissenschaftliche Dissertationen erwarten würde (aber auch bei Staeblers Titel ist keine thesenartige Problematisierung des Themas erkennbar). Mir tut jedenfalls der viele unbezahlte Schweiß leid. Denn Beckers Arbeit ist alles in einem: a) Eine höchst wissenschaftliche Biografie zuerst. Da meine Mutter anschaulich erzählen kann, kenne ich so manche Begebenheit aus Wilhelm Buschs Leben, v. a. aus der Gestapo-Zeit, aber auch vom Frankfurter Elternhaus wurde erzählt. Und hier nun wird das, was ich als Kindererzählung kenne, mit authentischen Gestapo-Akten nachgewiesen, die der Theologe sich nicht zu schade war, höchstselbst zu suchen und zu lesen! (Obwohl man den Akten nicht ganz trauen darf – sie sind z. T. bösartig –, zeigt sich ein teilweise anderes Busch-Bild als in den mütterlichen Erzählungen).

b) Zweitens schreibt Becker anstelle einer Dissertation eigentlich eine Bibliografie und ein Tonträger-Archiv, eine Sammlung aller seiner Werke und Vorträge in riesigen Listen und Tabellen, wo er, so weit es geht, die Orte und Tage sammelt, wann Wilhem Busch wo über welchen Bibeltext gepredigt hat. Das allein ist schon unmöglich, denn in unzähligen Traktaten und Blättern, die eigentlich bibliografisch nicht zu erfassen sind, teilweise aus anderen Blättchen zusammen geschrieben wurden (die großzügige, unglaublich produktive und tüchtige Arbeitsweise von Wilhelm Busch wird sichtbar), versucht Becker die Spuren, die Busch hinterlassen hat, vollständig zu erfassen.

c) Und dann kommt die eigentliche Dissertation: Die Anwendung mehrerer wissenschaftlicher Fragestellungen auf all dies. Die Homiletik, Predigtlehre wird hier untersucht. S. 418—81. Hier schweigt meine Wenigkeit als Nichttheologe. (Aber diese 70 Seiten hätten als Kern wohl gereicht ? Den Rest hätten eigentlich bezahlte Hilfskräfte erarbeiten müssen!)

Auch das Zusammenwirken von schriftlicher und mündlicher Verkündigung ist Beckers Thema.

d) Zur Biografie untersucht Becker schließlich die Familiengeschichte, beginnt nochmal nicht grade bei Adam und Eva, aber bei Kullen in Hülben und Busch in Nussbaum, behandelt sein Verhältnis zu den Juden und zum AT, listet emsig „Themen für Evangelisationsvorträge auf“.

Diese enzyklopädische Leistung erinnert an deutsche Nobelpreisträger des 19. Jahrhunderts wie Mommsen, die – für uns Heutigen unvorstellbar – alle übrig gebliebenen römischen Inschriften katalogisierten. Und das war nur eines von mehreren monumentalen Sammel-Werken Mommsens, großteils bis heute nicht abgeschlossen. Wolfgang Becker hat sich Verdienste um die Familie und Wilhelm Buschs Andenken erworben, die nicht nur mehrere Doktortitel rechtfertigen würden, sondern eine Leibrente der leider nicht vorhandenen familieneigenen Stiftung. Er widmet sein opus magnum seinen Eltern. Ein echtes Monument. Auch konnte er Vieles nicht vollständig erfassen, manche Tabelle endet mit Fragezeichen, manches Evangelisationsthema oder -ort konnte nicht mehr heraus gefunden werden. Obwohl es in den betreffenden Gegenden Deutschlands sicher noch Zeitzeugen gäbe.

Konnte man einem Menschen, der im nicht-wissenschaftlichen Alltag steht, dies zumuten? Sicher, das ist Standard heute im anspruchsvollen Wissenschaftsbetrieb, wird man mir Außenstehendem sagen. (Geht nicht auch so manches Doktor-Skandal (Guttenberg und Co.) auf dieses Missverständnis zurück, dass ein Doktor möglichst viel Seiten abgeben muss, etwas möglichst vollständig (langweilig) abgrasen muss, so dass der Betrug näher liegt als wenn eine eingeständig gedankliche These zuerst verlangt würde als vor allem Fleiß? Wären nicht etwas geringere Ansprüche letztlich mehr wert? Etwas mehr diskussionsfreudige Gemeinschaft und weniger vereinsamtes Leiden? Aber das gehört nicht hierher. Weniger wäre mehr, dieser Oxymoron-Spruch passt ja in unsere Zeit der Wirtschaftskrise und Globalisierung.)

 

II. Warum ist Wilhelm Busch heute so wenig „anschlussfähig“?

(Positiv: Wie könnte sein schon großes Erbe noch mehr genutzt werden?)

Neben aller Bewunderung für Beckers übermenschliche Leistung regt er doch auch gleich zu einer zweiten Frage an, die für mich offen bleibt. Warum ist Wilhelm Busch einmal so wenig erforscht – wie Becker zu Anfang selber sagt, warum zum Andern heute so wenig bekannt? Es geht mir weniger um Bekanntheit an sich, sondern darum, wie man an ihn anknüpfen kann, seinen „Segen“ erfassen und weiter geben kann. Natürlich weht der Geist, wo er will. Aber es ist doch auffallend, wie schwer es heute ist, bei Evangelisationen oder im Leben einer Kirchengemeinde von ihm zu profitieren, wo er doch seinerzeit so unfassbar wirkmächtig war.

Wolfgang Becker weist vielfach nach, wie unglaublich bekannt Busch zu seiner Zeit war. Selbst im katholischen Wien habe sein Name auf einem Plakat gereicht, um den Saal zu füllen. Und die Verbreitung seiner Schriften war noch größer. Seine Predigtweise, die ja Gegenstand der Arbeit ist, war auffallend ergreifend. Busch war auch ein „Bischof der Frommen“, wie Becker zitiert: Das heißt, er wirkte als Hirte, der die Schafe zusammen holte. Er riss also derart mit, dass nicht nur die Kritiker verstummten, sondern dass Menschen über alle Denominationsgrenzen hinweg ihm zuhörten und ihn als Autorität annahmen. Gut, es ist wohl einzugrenzen, dass sein predigendes Wirken auf den protestantischen deutschsprachigen Raum begrenzt blieb. Die Niederlande, Skandinavien kamen dazu. Seine Schriften wurden auch in viele Sprachen übersetzt. Aber wie ein Bischof spaltete er die Herde nicht, sondern ging voran und führte zusammen. (Sein Offiziersleben im Ersten Weltkrieg meint man ihm sein Leben lang anzuspüren: Er war ein mitreißende Anführergestalt, die „von vorne führt“, wie es in der Soldatensprache heißt.) Ihm schlugen wenig Ablehnungsfronten ins Gesicht, z. B. von Amtsbrüdern, er predigte so rasend, feurig und wirkungsvoll, dass er bereits wieder aus der Stadt weg war, bevor sich irgendwelche Theologen auf angebliche Fehler in seiner Arbeit kaprizieren konnten. Zumindest stelle ich mir das so vor. Wer die Protestanten Deutschlands kennt, weiß, wie zerspalten sie sind, besonders die sog. Frommen (siehe die Mönchsorden im Mittelalter). Schon zwischen einem örtlichen CVJM und einem EC können Welten liegen, geschweige denn der Graben, der dann zu Freikirchen sich auftut, notdürftig überbrückt durch die Allianz. Bei Wilhelm Busch findet man also nicht nur wenig theologischen Streit und Gegenwind, sondern auch persönliche Freundschaften und Vorbildfunktion bis in die entlegensten protestantischen Nebengruppen und Freikirchen (er hielt regelmäßig Vorträge auf der „Kadettenschule“ der Heilsarmee in Herne!). Ohne Mühe und ohne auch nur darüber zu sprechen überbrückte er diese Gräben mit seiner Art. Ein echter Bischof eben. Aber natürlich hat das seine Gründe. Becker zeigt einmal, wie Busch auf dem Beziehungsnetzwerk seines Vaters Dr. Wilhelm Busch senior aufbaut. Der war bereits über Landeskirchen-Grenzen hinweg tätig, für den deutschen Protestantismus wohl eine Ausnahme. Denn wo findet man in der Evangelischen Kirche bis heute einen Pfarrer, der nicht aus der lokalen Landeskirche stammt? Praktisch nirgends. Auch wichtige Großstadt-Kirchen werden nicht überregional besetzt. Die Bewerber stammen, wenn ich recht sehe, meist aus der Gegend. Das zweite auffallende Merkmal an Pastor Busch, was ihn von Pfarrerskollegen unterschied, scheint mir seine gute Gemeinschaft in seiner Heimatgemeinde Essen gewesen zu sein (aber auch schon in Bielefeld). Diese Gemeinde hatte laut Becker zahlreiche Pfarrer, mit denen Busch sich gut verstand. Diese Fähigkeit, kein einsamer Streiter zu sein, sondern die Anerkennung von Kollegen und Freunden zu finden, bevor es in die weite Welt hinaus geht, scheint ein Fundament seiner Arbeit zu sein, das wenig zum Vorschein kommt. Natürlich ist die Familie und die Familiengeschichte auch wichtig, die Frau Emmi, das Leben mit den Kindern, aber diese Gemeinschaft der Pfarrerkollegen untereinander, der Ablauf des Kirchenjahres speziell in Essen mit seinen Traditionen und Festen, auch der Umgang mit den Kirchenältesten und Gemeindemitgliedern (der spätere Bundespräsident Heinemann war Kirchengemeinderat), all dieses feste Eingebundensein und der menschliche Austausch und Zusammenhalt, auch die Fähigkeit, in dieser örtlichen Gemeinschaft zu leben, hat m. E. mehr zu Buschs Wirkmächtigkeit beigetragen, als wir ahnen. Hier musste er, der sonst so als Einzelerscheinung hingestellt wird, sich auf Mitmenschen einstellen. Weil er dazu bereit war, konnte er auf Menschen eingehen und fand so vielleicht später auch weniger Widerspruch und so ungeheuer viel Zuspruch und Zugang zu den Herzen. Bei Becker finden sich viele Quellen zu dieser Essener Gemeinde und wie Busch sich hier ein- und unterordnete. Wohl hat auch seine Frau durch ihre Einladungen ins große Pfarrhaus diese Kontakte gepflegt. (Im einen Zimmer rauchten an so einem Einladungsabend die norddeutschen Frommen, enthielten sich aber des Alkohols, im anderen Zimmer tranken die süddeutschen Frommen ihren Wein, enthielten sich aber – der Frömmigkeit ihres Landstriches nach – des Tabaks, so geht die Sage.)

Hierher gehört auch die Nazi-Zeit: Hier zeigte sich Busch eindeutig als Prophet! Es ist faszinierend, bei Becker die Originalzitate aus der Zeit zu lesen, wie unklar die Lage war. Wie sollten sich die Christen verhalten? Wie waren die Nazis einzuschätzen? Große Anführer der Frommen beschwichtigten oder ließen sich von den Nazis blenden. Auch Wilhelm Busch war lange unschlüssig. Wie fast alle evangelischen Pfarrhäuser war Buschs Familie vom Kaiserreich her auch in der Weimarer Zeit deutschnational und konfessionalistisch evangelisch. Es gehörte zum Repertoire in der Familie und in der Gemeindearbeit, aus der Zeit der Konfessionskriege nach der Reformation spannende Ereignisse zu erzählen, wie beispielsweise die protestantischen Niederländer ihr Land fluteten, um sich gegen die katholischen Habsburger Landesherren zu wehren. Oder: Die Verfolgung der Hugenotten durch das katholische Frankreich, die Busch besonders in der Nazi-Zeit Trost und Richtung gibt. Busch war nicht antikatholisch, aber er war Kind seiner Zeit: er hielt die evangelische Fahne hoch, und auch die deutsche, die seit der Niederlage Preußens und Deutschlands im Ersten Weltkrieg so beschmutzt war. In seiner Jugend waren Wilhelm Busch und seine Brüder sehr national. Und so war zuerst auch nicht klar, was man von dem „Wiedererwachen Deutschlands“ unter Hitler halten sollte. Und da werfen Beckers Quellen ein klares Licht auf Wilhelm Busch als Prophet: Nach anfänglicher Unklarheit erkennt er sehr schnell – in der Zeit ein echter heiliger Geistesblitz! –, wohin der Hase läuft. Und das besonders Prophetische an Busch: Er kann den Mund nicht halten! Was sonst vielleicht eine schlechte Eigenschaft an ihm war, hier scheint es als Geistesgabe hell auf: Vor riesigen Versammlungen wagt er es – bei Becker stehen die Zitate wörtlich –, nicht nur Bedenken gegen die Nazis zu äußern oder durch sein Schweigen etwas anzudeuten, nein: er serviert die Nazis frontal ab, aggressiv und eindeutig (allerdings hat er keinen aktiven Widerstand geleistet im Sinne, dass er gegen den Holocaust geredet oder gearbeitet hätte). Er bringt sich richtig in Gefahr, aber das scheint ihm völlig egal zu sein! Das ist faszinierend. Amtsbrüder schicken ihm freundliche Briefe, das könne man doch so direkt nicht sagen und er soll doch aufpassen. Er wandert auch in Gestapo-Gewahrsam. Aber er ist als Prophet meilenweit voraus und posaunt es ins Land hinaus. Sicher ist das auch ein weiterer wichtiger Grund für seine überragende Autorität nach der Holocaust-Zeit.

Trotzdem bleibt für mich die Frage, warum man sich heute so schwer tut, auf Buschs Erbe oder, wie immer man es nennen will, aufzubauen, wo er doch zu Lebzeiten so viel bewirken konnte. Hier scheint mir das Kapitel „Bekenntnisbewegung“, das Becker auf S. 402 bringt, unterschätzt zu werden. Ähnlich wie in der Politik ein Kalter Krieg ausbrach, scheint mir in der Evangelischen Kirche nach dem Zweiten Weltkrieg ein Kalter Krieg ausgebrochen zu sein zwischen den „Modernen“ einerseits. Sie unterstützten die Bibelkritik und politisches Engagement. Ein Großteil der evangelischen Pfarrer – vielleicht mehr noch im preußischen Norddeutschland als im traditionell liberalen Süden – war nach Hitler nicht mehr deutschnational, sondern wurde plötzlich zunehmend pazifistisch, war gegen Adenauers NATO und Westintegration, gegen Adenauers aggressive Ablehnung der „Soffjetunion“, siehe auch Heinemanns kurzlebige „Gesamtdeutsche Volkspartei“. Busch selbst ging diesen Weg zunächst mit. Er war Pazifist (wie Parzany heute noch), er wollte unbedingt in der DDR predigen (bei so einem Einsatz starb er ja, wie ein echter Held, nicht im Bett, an zu viel Stress), sein enger Freund Heinemann ging schließlich nach dem Scheitern seiner GVP zur SPD. In den fünfziger Jahren finden wir Busch in enger Zusammenarbeit mit Bischof Lilje auf den Evangelischen Wochen (aus denen dann der Ev. Kirchentag hervorging). Auch der Gründer Krelingens, Pastor Heinrich Kemner, pflegt höchst freundschaftlichen und selbstverständlichen Umgang in der Theologenrunde. In der eigenen Familiengeschichte finden wir in diesen Jahren die Scheffbuchs zusammen mit den Schäfers, Stöfflers, Eißlers, Buschs und Müllers Musik machen. Doch dann kam der Kalte Krieg auch in die Evangelische Kirche. Die konservativen, die Anti-Barthianer, die „Bibeltreuen“, die „Erwecklichen“, die „Bekenntnisbewegung“, die sich in einem neuen Dritten Reich wähnten, wo es wieder mutig gegen den Strom zu bekennen gelte, trennten sich scharf von den „Modernen“. Einen Bischof Lilje sehen wir jetzt plötzlich „links“ stehen, wo er sich wohl selbst nie sah, ein Heinrich Kemner gründet Krelingen, der alte Freund ist jetzt durch einen tiefen Graben getrennt am äußerst rechten Rand. Wilhelm Busch entschied sich für die konservative Seite. Der Graben zeigt sich auch darin, dass die Frommen lange Jahre den Kirchentag boykottierten (vergleichbar den Olympia-Boykotten). Allerdings zeigt Becker, dass Busch einfach nicht mehr eingeladen wurde zum Kirchentag als Redner, obwohl er gerne hingefahren wäre. Ich bin der Überzeugung, dass diese Trennung ein weiterer Schicksals-Schlag in seinem an Schicksals-Schlägen so reichen Leben war, der sein Erbe für uns heute schwerer macht als nötig. Alles Missionarische und Evangelistische war m. E. nun über Jahrzehnte hinaus für einen Großteil der Theologenschaft vergiftet, tabuisiert, von wüsten, peinlichen Streitigkeiten belastet. Faktisch war hier die evangelische Kirche Jahrzehnte gespalten. Schon vor dem Mauerfall sind diese Streitigkeiten allmählich in den Hintergrund getreten, der Kalte Krieg scheint an dieser Front zumindest vorbei. Mission ist schon lange wieder Thema auch auf offiziellen Kirchenversammlungen (Becker zeigt dies in seiner Einleitung am Beispiel einer Synode von 1999). Aber ich bin mir sicher, dass Wilhelm Busch und seine Verkündigung nicht nur dadurch eingeschränkt wurde, dass nur die eine Hälfte Deutschlands – die evangelische! – für sein Wirken in Frage kam, sondern dass am Ende seines Lebens auch noch diese eine Hälfte erneut geteilt wurde, in die moderne und die konservative. Für eine Fortsetzung des Segens von Wilhelm Buschs Wirken blieb also nur noch ein Viertel des Ackerfeldes! Ja, die Konservativen scheinen mir sogar stark in der Minderheit gewesen zu sein, so dass ein Viertel stark übertrieben erscheint. Busch, der sonst so wenig auf Widerspruch stieß, war nur noch für eine Minderheit interessant. Allen anderen sagten die Bücher und Tonkassetten wohl schnell nichts mehr. Aus einem weithin anerkannten, beliebten und begnadeten Autoren wurde sozusagen ein esoterischer Geheimtipp frommer Zirkel. Das scheint mir der wahre Grund, warum es bisher keine Doktorarbeit gab. Und warum Buschs Wirken, auf dessen Spuren man doch überall stößt, insgesamt doch recht unbekannt geblieben ist. „Wilhelm Busch“ steht für den Karikaturisten und Komiker, nicht für den Prediger.

 

III. Welche Schwächen hatte Wilhelm Busch und was bedeuten sie?

Ist Becker unabhängig genug zu seinem Forschungsgegenstand, dass er Schwächen deutlich heraus arbeitet? Ist er nicht zu wohlwollend? Ich als Nachfahre bin da ja auch befangen. Mir fallen jedenfalls, wenn ich die Quellen Beckers lese, folgende Punkte auf, die ich nicht übergehen will:

Wilhelm Buschs Wirken war nicht nur durch seine evangelische Konfession und seine deutsche Sprache begrenzt (obwohl er natürlich so weit wirkte wie kaum jemand). Becker fällt auf, dass Busch viel davon spricht, wie sehr er von seiner Kullen-Mutter geprägt worden sei. Dabei sei er ja auch mindestens so sehr von seinem Busch-Vater geprägt worden, stellt Becker erstaunt fest. Allein wenn man an das o. g. Netzwerk denkt, das er in jungen Jahren, nachdem er aus dem Krieg bekehrt heimkommt, direkt übernimmt. Schon in sehr jungen Jahren vertritt er seinen Vater auf der Kanzel. Er erbt richtig gehend fast alles von seinem Vater! Dafür schreibe Busch aber dann – vielleicht sozusagen als ausgleichende Gerechtigkeit – die viel gelesene Biografie über seinen Vater.

Liegt hier eine Schwäche von Busch? Ich könnte mir vorstellen, dass in der Betonung der Mutter einerseits eine damals übliche Redeweise mitschwingt, die Busch und seine Familie noch aus dem Kaiserreich mit übernommen haben. Der auch in Buschs Familie verbreitete Kinderreichtum wurde von der Kaiser- und anderen Fürstenfamilien auf wunderschönen Familienfotos vorgemacht. Vielleicht spielt indirekt auch mit, dass die Kaiserin in der traumatischen Katastrophe des Ersten Weltkrieges sicher die christlichere, besonnenere, weisere Rolle gespielt hat als Wilhelm II. Wohl hat Wilhelm Busch im Kaiserreich auf dem Frankfurter Gymnasium viel Historistisches zu hören bekommen: „Cornelia, die Mutter der Gracchen“, die christliche Rolle der Monika, Mutter Augustins und damit des christlichen Abendlandes, ganz zu schweigen von Kaiserin Helena, der Mutter Kaiser Konstantins, und dann weiter die tapferen Mütter im preußischen Herrscherhaus. All dies wird nicht ohne Wirkung auf die nationalistischen Pfarrhäuser geblieben sein, wo die Söhne wie Orgelpfeifen im Matrosen-Anzug auf so manchem Familienfoto Deutschlands neue Weltmachtstellung symbolisierten. Jedenfalls zeichnete Wilhelm Busch immer das Bild von einem sehr innigen Verhältnis zu seiner Mutter. Die Familienbindung war sicher sehr stark.

Becker wundert sich hier weiter vorsichtig an einer Stelle, dass die Familie von Emmi Busch, seiner Frau, geb. Müller, praktisch von ihm nie erwähnt wird. So stark also die Buschfamilie war, so stark die Wirkung der Mütter war, ist es doch eine Schwäche, dass die „andere Seite“ so wenig Erwähnung findet, könnte doch die Gefahr bestehen, die auch hier in diesem Text überdeutlich wird (ich schreibe über die eigene Verwandtschaft!), dass man sich um die eigene Familie dreht und sich stark vorkommt, dabei ist grade dieses Schmoren im eigenen Saft höchst ungesund und unchristlich, auch für eine Ehe. War es doch weitgehend ein Verdienst Emmi Buschs (Becker findet Zitate, die schon damals belegen, dass Buschs Schwächen von seiner Frau aufgefangen werden), dass ihr Mann in Essen so gut mit allen auskam? Denn man könnte meinen, so viel, wie er geerbt hat aus der eigenen Familie, stand Wilhelm Busch in der Gefahr, die anderen gar nicht mehr zu brauchen, sich selbst zu genügen, christliche Gemeinschaft nur zu erleben als Prediger von oben, sich selbst aber nirgends einordnen zu können, letztlich einsam zu sein. Das wäre eine interessante Doktorthese: Wilhelm Buschs Verkündigung: Werk eines Einzelnen?

Die Gestapo-Berichte können zwar auch böswillig sein, aber sie berichten offensichtlich, wie ängstlich Wilhelm Busch in Gefangenschaft war, dass er psychisch zusammenbrach. Auch soll er sich zu seiner Entlastung als Polizei- oder Militär-Pfarrer, sogar SS-Pfarrer (schreibt zumindest einer der Gestapo-Leute) dargestellt haben, ja er muss wohl betont haben (oder haben die Nazis ihm das wohlwollend in Erinnerung gerufen? denn Becker zeigt, wie sie ihn auch vereinnahmen wollten), dass er nach dem Krieg in Freikorps-Einsätzen (inoffiziellen para-militärischen Kommandoaktionen) gegen Kommunisten gekämpft habe. Tatsächlich hat er zeitenweise einen Teilauftrag als Polizei-Pfarrer gehabt, hat Becker eruiert. Trotzdem kommt hier einem der Großonkel Wilhelm Busch nicht siegreich vor. Seine große Emotionalität, die man aus seinen Predigten als Tondokumenten heraus hört (im Internet archiviert), seine starke Bindung an die Mutter und die Eltern, könnte korrespondieren mit einer Schwäche, sein ungeheures Lebens- und Arbeitstempo, sein Feuer könnte korrespondieren mit einer Überforderung. Wenn er nicht so ungeheuer erfolgreich gewesen wäre, ungeistlich gesprochen, wäre so jemand ein Kandidat für Burn out und Depressionen gewesen, wie man heute sagt? (Gibt es in seinem familiären Umfeld nicht genug Beispiele dafür? Hat das Wolfgang Becker niemand erzählt? Ist das für das geistliche Verständnis nicht sehr wichtig?) Erinnert er hier in der Zelle vielleicht auch an das Ausgelaugtsein des Elia unter dem Wacholder (1. Kön 19, 4) in der Wüste nach dem Gericht am Berg Karmel?

Wichtig wäre auf jeden Fall zu fragen, ob nicht erst dank seiner Mitmenschen aus einem schwachen Menschen so ein wirkungsvoller Prediger wurde. Und ob die Herkunfts-Familie wirklich nur zum Segen beitrug, oder ob nicht auch ehrlicherweise manches schwere, vielleicht emotionale Problem, oder die von Becker mehrfach besprochene Ungeduld, von der Familie ererbt wurde. Hier abzuwägen, ist eine offene, bisher wohl gar nicht gestellte Frage. Die Mutter-Familie wird immer nur einfach als überwältigend positiv dargestellt, sicher eine sehr unweise Vereinfachung.

 

IV. Wird Wilhelm Busch vielleicht besser „anschlussfähig“, wenn man ihn als „geschlagenen Gottesmann“ sieht statt als großen Prediger?

Diese Gedanken führen mich zu meiner vierten großen Frage: Was ist in diesem Leben nicht alles an hoch fliegenden Gütern und Freuden zerstört worden! Ist das nicht eines der wesentlichen Merkmale dieses Predigers, die Zerstörung bzw. der Verzicht und die Einschränkung. Sein Leben ist doch eine Fortdauer von Kulturzerstörung! Ist seine Gemeindearbeit und Predigtweise nicht eher zu charakterisieren als „Eindampfung auf das Wesentliche“? Bis am Schluss nur noch steht: Jesus, unser Schicksal! (Sein bekanntestes Buch heute, ein Predigt-Sammelband.) Weniger in seiner Predigtweise liegt der Schlüssel zu seinem Verständnis vielleicht, sondern darin, wie wenig Themen er nur noch hatte. Ganz reformatorisch stand am Schluss solus Christus, allein das Evangelium. Das ist aber eine abstrakte Botschaft für uns Menschen. Nach den Zerstörungen kam sie gut an, aber heute im Wohlstand, wo wir so viel Anknüpfungspunkte und Ablenkungen haben? Ich vermute mal, dass dies die Predigtweise heute so schwer anschlussfähig macht, diese ungeheuere Einengung, dieser lebenslange asketische Rückzug.

Wilhelm Busch, aus sehr gut evangelischem, deutschnationalem Elternhaus, mit Gymnasialbildung des Kaiserreichs, kommt als blutjunger Mensch in die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, den Ersten Weltkrieg, in dem er sich bekehrt. Doch wie stolz hat er zunächst als noch Heranwachsender die Offiziersabzeichen getragen (Becker bringt die Zitate dazu)! Wie erhaben zogen sie alle für den Kaiser in den Krieg! Wie inbrünstig glaubten sie an die historische Größe dieses protestantischen Reiches! Sie glaubten, ihre Söhne opfern zu müssen! Auch noch im Zweiten Weltkrieg! Seine Literatur-Kenntnisse aus der Schule scheinen in den Predigten immer wieder auf, sein Frankfurter Landsmann Goethe kommt immer wieder zur Sprache. Deutsche Größe, Glanz, Stärke, Selbstbewusstsein, auch im Pfarrhaus nicht ganz zu trennen von Gottes Größe, Glanz, Stärke.

Aber was für eine persönliche Katastrophe muss dieser Krieg für ihn und die Eltern gewesen sein, was das politische Denken angeht. (Von Becker nur gestreift.) Er wendet sich neu und bewusst dem Glauben seiner Eltern zu, die, obwohl Pfarrleute in einem bürgerlichen Bezirk, das großbürgerliche Leben schon immer eingeschränkt hatten: Bällen und Theatern blieben sie fern. Auch die Begeisterung für den Weltkrieg – zeigt Becker – war bei Buschs eher Ernst als Freude. Nach dem Untergang dieser deutschen Träume 1918 widmet sich der belesene Sohn auf seinen frühen Pfarrstellen den Arbeitern. Arbeiter waren für die Evangelischen – die sich jetzt ohne „ihr Kaiser-Reich“ in einer ungeliebten Republik wieder fanden – der strategisch gesehen härteste Kampfplatz: Sie waren Feinde im Kaiserreich gewesen, sie hatten sich weit von der evangelischen Kirche entfernt. (Buschs Vater hat hierüber schon nachgedacht, war gegen das Bündnis von Thron und Altar.) Nun hat der Pfarrer kein Kaiserreich mehr hinter sich, das notfalls Sozialistengesetze erlässt: Allein mit der Macht des Wortes kämpft Busch für das Evangelium (und gegen die kommunistische Weltrevolution). Die Jugendarbeit des Weigle-Hauses enthält viele bürgerliche Elemente, Vieles ist auch Bildungsarbeit: Biografien, Kirchengeschichtliches wird behandelt, es wird vorgelesen. Busch macht Furore mit der Gründung einer „Universität für Erwerbslose“ im Weigle-Haus. Erst die Nazis, die diese zuerst vereinnahmen wollen, machen diesem Bildungswerk ein Ende. In Buschs Kunstinteresse spiegelt sich das lutherische, bilderfreundliche Pfarrhaus. Die elterliche Lukaskirche in Frankfurt ist mit Bildern des Nazarener-Malers Wilhelm Steinhausen ausgemalt. Die Familie lebt mit diesem Künstler intensiv mit. Noch in der Wohnung meiner Großmutter in Hülben hing das Selbstporträt Steinhausens, das man heute bei Wikipedia abgebildet sieht. Busch zeigt Lichtbilder von christlicher Kunst. Seine älteste Schwester Johanna, genannt Mädi, heiratet den Künstler-Pfarrer Stöffler. Busch wollte zunächst Kunstgeschichte studieren. Er zeigt auch schon in den Dreißiger Jahren Filme! Ein breit gebildeter Mensch steht hier vor uns, der sehr viele Anknüpfungspunkte bietet und weder vor moderner Technik noch vor Bildung zurück schreckt. Das neue Massenmedienzeitalter, das die Nazis so zu nutzen verstanden, kann auch ihm helfen (vgl. Billy Graham, den Wilhelm Busch später nach Europa holen hilft). Zeugen beschreiben ihn lebenslang als Gentleman, der sich letztlich am meisten für intellektuelle Themen interessiert. Allerdings folgt er der Jugendbewegung darin, dass er seine Jugendarbeit hinaus in die Zeltlager schickt und nicht akademische Literaturbesprechungen, Geigenquartette oder Theatergruppen aufbaut. Die Frage ist, warum die von Becker gezeigten Verbindungen des Weigle-Hauses zur BK-Arbeit („Bibelkränzchen“ für höhere Schüler) oder seine Verbindungen zur DCSV / SMD oder zum Wingolf (christliche Studentenverbindung) in seiner Arbeit nicht ausgebaut wurden, wo ihm das Intellektuelle so lag. Auch eine diakonische Ausrichtung Richtung Arbeiter-Jugend wäre sicherlich denkbar gewesen (in seiner Bielefelder Zeit hat er anscheinend auch Kontakte zu von Bodelschwinghs Bethel). Allerdings weist Becker hier Buschs Teilnahme an internationalen CVJM/YMCA-Tagungen nach, wo der deutsche Zweig schwer kämpft gegen ein sog. Social Gospel. Daher kommt wohl Buschs Verzicht auf allzu sozial-diakonische Arbeiten. Die Zukunft scheint für ihn nicht mehr dem dekadenten Großbürgertum zu gehören, sondern wie viele damals glaubt er, es brauche eine neue, einfache, bodenständige Wander-Jugend. Es heißt da auch, für Jugendarbeit reiche es, Fußball zu spielen und dann eine biblische Andacht zu halten. Also, unter dem Eindruck der Armut der Weimarer Zeit, der Desorientierung nach dem verlorenen Krieg, baut sich Busch eine Familie und eine Kirchenarbeit auf, die zwar nicht unbürgerlich ist, jedoch letztlich aufs Wesentliche reduziert: einfaches Leben und Wort Gottes. Die Inflation muss jemanden seines Standes ohne Immobilien hart getroffen haben! (Von Becker nur am Rande erwähnt.) Aber immer noch entdeckt Becker bildungsbürgerliche Themen und kunstfreudige Vorträge bei ihm. Und dann wird ihm mehr und mehr die Jugendarbeit eingeschränkt, seine Bibliothek verbrennt im Bombenangriff, der zweite große Krieg in seinem Leben, Tod und Vernichtung. Was mussten seine schwachen Nerven nicht alles aushalten. Um zum Schluss zu kommen: Ich meine eine Einengung zu erkennen. Aus dem politisch selbstbewussten Bildungsbürger wird durch den schrecklichen Kulturzerfall des 20. Jahrhunderts mit seinen unglaublichen Monströsitäten ein Mann, dem immer mehr Schönes aus der Hand geschlagen wird. Nur das reine Evangelium überdauert die Katastrophen. Allein biblische Geschichten dienen als Anknüpfungspunkt. Die Steinhausen-Lukaskirche in Frankfurt ist zerstört. Eine Bildungsarbeit für die höhere Jugend oder eine Sozialarbeit, die ihm ja auch gelegen hätte, ist nach dem Krieg nicht erste Priorität. Es geht nur um das Evangelium. Es muss im zerstörten Deutschland gepredigt werden. Wie ein Gehetzter reist der Ruheständler durchs Land und predigt und predigt. Weniger wie und was er sagt, ist vielleicht untersuchenswert, sondern eher, was so ein Mensch in seinem Leben alles hätte sagen können (so wie ich in aller Ruhe in Frieden und Wohlstand, in Distanz und im Detail, dies alles schreiben kann) und aufbauen können, aber angesichts der furchtbaren Schläge der Geschichte darauf verzichten musste und seine Bildung und rhetorische und menschliche Begabung immer mehr reduzierte auf ein Thema: Jesus. Das ist einerseits sehr künstlerisch und theologisch sehr reformiert, aber es macht ihn für uns heute fern in seiner Radikalität, die wenig Anknüpfungspunkte hat. Vielleicht müsste man diese verloren gegangenen Seiten aufdecken, um ihn in unsere reizüberflutete Wohlstands-Zeit zu übersetzen.

Abschließend  bin ich erneut Herrn Pfarrer Dr. Wolfgang Becker dankbar für diese akribische Quellenarbeit, die den Vorfahr lebendig werden lässt. Im Anschluss an obiges Zitat aus Jes. 51,1 heißt es: Schaut des Brunnens Schacht an, aus dem ihr gegraben seid, schaut Abraham an, euren Vater, und Sara, von der ihr geboren seid. Becker ist sehr tief in diesen Schacht hinab gestiegen (mit weit über tausend Fußnoten). Mir hat er frisches Wasser hoch gebracht.                                                 Chr. Ebinger, Pforzheim, 4.9.11

 

 

 
 

Kultur

 

Arbeit mit „höheren Schülern“

und Studenten

 

Kunststudium

 

Literarische Interessen, Freund der Kirchenlieder

 

Bestseller-Autor, Zeitschriften-Leiter

 

berühmter

Redner

 

Unterhaltsamer

Gesprächs-partner bei zahlreichen menschlichen Begegnungen

 

Widerstand und dennoch eigene Schuld-

Erkenntnis

NS-Verbrechen

 

Zusammen-führung, Autorität

(„Bischof“)

 

 

 

Zum Schluss noch ein Schaubild zur Zusammenfassung

Soziale Arbeit

 

Bergarbeiter-Pfarrer

Kenntnis des Arbeiterelends

Männer-/ Jungenarbeit

 

Als Träger des Eisernen Kreuzes Kenntnis des Soldatenelends

 

Christlicher Arbeiterverein

 

Universität für Erwerbslose

 

Mit Heinemann später Unterstützer der SPD

 

Pädagogische Begabung

für Kinderarbeit

Anschaulich-keit

Sprache der jeweiligen Zielgruppe

 

 

Familie, Ausbildung

Leben im

20. Jh.

zwei Weltkriege, Holocaust,

Deutschland von ganz oben nach ganz unten, Modernisierung, Demokratisierung, neue Medien, Massengesellschaft, persönl. Bekehrung

 

 

 

Verkündigung

„Allein Jesus“

in Evangelisations-Predigten

und -Schriften

 

 

Faktoren in Wilhelm Buschs Leben

 

 

 

 

    
  
   
 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wegen der Umstände              Konzentration auf „Kernkompetenz“                        Wegen der Umstände

in den Hintergrund getreten                                                                                         in den Hintergrund getreten

 

 

Zum heutigen Verständnis aber:

Alle Facetten sind wichtig.

Vielleicht gerade die, die in den Hintergrund getreten sind?

Die, die ganz aus seinem Leben „gestrichen“ wurden?

(Kommen gerade die aber bei der Rezeption nicht zu kurz?

Sind hier nicht Anknüpfungspunkte, die gut ins 21. Jahrhundert passen?)

 

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